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Vor genau 175 Jahren trat in der Frankfurter Paulskirche das erste gesamtdeutsche Parlament zusammen. Vorausgegangen waren die Märzrevolution, Barrikadenkämpfe und die Einsicht, dass der Wunsch der Deutschen nach einer Verfassung gehört werden muss. Ein großes Ziel des Paulskirchenparlaments 1848 war die Einigung Deutschlands. Denn Deutschland war noch zersplittert in unzählige kleine und große Territorien, Fürstentümer und Königreiche.

Auch die Kirche war in viele kleine und große Landeskirchen geteilt. Und auch in der Kirche sollte der Ruf nach einer gesamtdeutschen Kirchenorganisation gehört werden. Dazu versammelte sich im Spätsommer 1848 eine Kirchenkonferenz in Wittenberg. Mit dabei war der Gründer des Rauhen Hauses, eines Rettungshauses für Kinder in Hamburg: Johann Hinrich Wichern. Aber ihm lag weniger die Kircheneinheit am Herzen. Stattdessen hielt er eine programmatische Rede über die Notwendigkeit einer inneren Mission, die sich an die von der Kirche abgewandten Arbeiterfamilien wenden müsse. Schon bald darauf nahm die „Innere Mission“ ihre Arbeit auf, die wir heute unter dem Namen „Diakonie“ kennen.

Hatte Johann Hinrich Wichern das so gewollt? Wer war er und was waren seine Ziele? Ein (zugegeben fiktives) Interview bringt uns den Menschen Johann Hinrich Wichern näher.

Journalist: Sehr geehrter Herr Wichern, sie sind berühmt geworden durch die Gründung des Rauhen Hauses in Hamburg. Waren die Zeiten damals so rau, dass sie diesen eindrücklichen Namen für Ihr Unternehmen wählten?

 
Johann Hinrich Wichern: Oh nein, damit hat der Name nichts zu tun. Als wir 1833 mit der ersten Bauernkate unsere Arbeit in Hamburg begannen, da haben wir diesen Namen schon übernommen. Und Namen soll man nicht ändern. Wie überhaupt - Gott hat diese Welt gut geschaffen, wir sollten so wenig wie möglich daran ändern. Wir sollten Gott stattdessen wirken lassen

Journalist: Warum haben sie das Rauhe Haus gegründet?

Johann Hinrich Wichern: Ich habe viel Not in Hamburg kennengelernt! Ich habe die Verwahrlosung und die Sittenlosigkeit in den Armenvierteln oft genug gesehen! Wilde Ehen und Prostitution haben wir bei unseren Besuchen als Sonntagsschullehrer zur Genüge vor Augen gehabt. Gottlosigkeit, wohin man schaut! Das Problem ist, die Familien sind zerrüttet! Deshalb habe ich im Rauhen Haus vor allem Jungen aufgenommen, die zukünftigen Familienväter, auf die sich unsere Nation aufbaut.

Journalist: Später haben sie den preußischen König sogar beraten bei der Neuorganisation der Gefängnisse. Was haben sie bewirken können?

Johann Hinrich Wichern: Die Einzelunterbringung statt der Schlafsäle, das wird wohl bleiben. Und auch die Idee, dass man Gefangenen helfen muss, nach der Haft wieder zurückzukehren als vollgültige Mitglieder der Gesellschaft. Auch das wird hoffentlich bleiben. Aber unsere Brüder wurden vom neuen König wieder entlassen. Man wird wieder auf die alten Gefängnisaufseher zurückgreifen.
Journalist: Warum?

Johann Hinrich Wichern: König Friedrich Wilhelm IV. war ein frommer Mann. Der hatte noch einen Glauben! Gott hab ihn selig! Der neue König Wilhelm I. ist ein Rationalist! Er lässt sich von der Vernunft, statt vom Glauben leiten! Man wirft uns vor, wir hätten in den Gefängnissen missioniert! Doch frage ich sie: Woher soll denn sonst eine Besserung der Gesellschaft kommen!

Journalist: Ein großes Projekt von ihnen blieb immer die Innere Mission!

Johann Hinrich Wichern: Ja, die Innere Mission. Die Aufgabe bleibt. Ich bin durch ganz Deutschland gereist. Habe Vorträge gehalten und Konferenzen besucht.

Journalist: Sie haben 1848 die ganze Kirche aufgeschreckt!

Johann Hinrich Wichern: Habe ich das? Vielleicht habe ich die Kirche wachgerüttelt. Und doch stehen wir noch ganz am Anfang!

Journalist: Was haben sie erwartet?

Johann Hinrich Wichern: Ich habe gehofft, dass in allen Gemeinden, ja, in allen christlichen Häusern ein Umdenken beginnt. Dass wir die Mission in Deutschland wieder zu unserer größten, heiligsten und kräftigsten Bewegung machen. Die Mission in den Arbeitervierteln und unter den Familien, die sich von der Kirche abgewandt haben. Innere Mission! Nicht nur Mission in Afrika und Übersee. Hier bei uns gibt es so viele Menschen, denen wir die Liebe Gottes bringen müssen!

 
Journalist: Und war das Rauhe Haus nicht ein großartiger Anfang?

Johann Hinrich Wichern: Rettungshäuser und Heime sind wichtig! Zweifellos! Aber die Kirche verliert weiter den Kontakt zu großen Bevölkerungsteilen! Wir haben noch nicht die Herzen der Menschen erreicht.

Journalist: Ist das nicht zu viel verlangt?

Johann Hinrich Wichern: Viel zu wenig Christen glauben daran! Das ist das Übel unserer Zeit. Ich wollte das Rauhe Haus zu einer Keimzelle für eine neue Kirche machen!

Journalist: Ein Neustart wie in der Urgemeinde?

Johann Hinrich Wichern: Genau! Wir müssen mehr sein, als eine traditionelle Kirche! Wir müssen die Kinder vor dem Verfall dieser Gesellschaft retten. Wir müssen unsere ganze Nation retten!

Journalist: Das klingt ein wenig zwanghaft!

 
Johann Hinrich Wichern: Ich habe immer gesagt, dass die Kinder nur durch Liebe im Rauhen Haus gehalten werden sollen. Durch keinen Zaun, durch keine Mauer und nicht durch Androhung von Strafen! Nur so erreichen wir die Herzen der Kinder! Die Kinder müssen frei entscheiden.

Journalist: Und das ist übertragbar auf die Kirche?

Johann Hinrich Wichern: Jeder Mensch soll sich frei entscheiden, für oder gegen den Glauben, für oder gegen Gott, für oder gegen die Kirche. Unser Herr ist im Himmel, auf Erden müssen wir mit unseren Möglichkeiten und Einsichten entscheiden. Aber wir können uns schon hier und jetzt für das Himmelreich entscheiden!

Journalist: Und, wie würden sie ihren Erfolg sehen?

Johann Hinrich Wichern: Ich hätte nie gedacht, dass das Reich Gottes so kompliziert ist!

Journalist: Vielen Dank für das Gespräch!
 
Mit der Rede Johann Hinrich Wicherns vor 175 Jahren in Wittenberg begann eine Bewegung, auf die bis heute die Diakonie in Deutschland aufbaut. Insofern können wir sagen: Herzlichen Glückwunsch zu 175 Jahren Diakonie!
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